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SCH O PEN H A UER ALS LESER GRACIANS
Sebastian Neumeister
Im März 1858 unternahm der französische Philosoph Frédéric Morin,
Verfasser eines
Dictionnaire de Philosophie et de Théologie scolasti-
ques
und anderer, einer christlichen Denkrichtung verpflichteten
Werke, eine ausgedehnte Reise durch Deutschland, derjenigen ver­
gleichbar, die ein halbes Jahrhundert zuvor die berühmte Madame
de Staêl in das Land der Dichter und Denker geführt hatte. Auch
Arthur Schopenhauer, seit 1833 ansässig in Frankfurt, steht auf der
Liste des Bildungsreisenden Morin. Tatsächlich wird diesem die Ehre
zuteil, zu einem längeren Gespräch empfangen zu werden, das ver­
schiedene Aspekte der Schopenhauerschen Philosophie berührt und
an einer Stelle auch Graciän.1 Zunächst jedoch ist Morin von der
Wohnung beeindruckt, die Schopenhauer sich über der Stadt gewählt
hat:
II demeurait, non point dans l’une des rues tortueuses et rüdes de la ville, mais, en
vue du Mein, sur le quai de Schöne-Aussicht; et rien qu’á voir la maison qu’il s’était
choisie, on reconnaissait bien vite que 1
’âpre m éditatif était, p ar certains côtés de
son caractère, un bon bourgeois com prenant et calculant la vie. Une vieille ser­
vante, à l’air rogue, accompagnée d ’un barbet morose, m’introduisit dans un
cabinet de travail vaste, bien aéré, bien aménagé, tout brillant de propreté et de
soleil. U n buste de G oethe planait sur une belle bibliothèque.
Nicht Goethe soll jedoch hier interessieren und auch nicht der be­
rühmte Pudel, der "barbet morose", so wichtig er für die Ikonographie
und die Philosophie seines Herrn auch ist, sondern die "belle
bibliothèque". Sie nämlich legt ein beredtes Zeugnis ab vom geistigen
Horizont und von der jedes Fachgelehrtentum überwindenden Weite,
1 Abgedruckt in der
Revue de Paris
2, 7 (1864): 528-543. W iederabdruck in: A.
Schopenhauer,
Gespräche,
ed. A. Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt Z1971, pp.
323-339.
2 Ib., p. 324.
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die Schopenhauers Wissen und Denken auszeichnen. Nicht nur, daß
wir in ihr, deren Zusammensetzung wir durch die Erfassung des
Nachlasses genau kennen, alle Bereiche des Wissens vertreten finden,
Naturwissenschaften, Geschichte, Literatur, Theologie, Philosophie.
D ie klassischen Werke der großen Kulturnationen Europas finden
sich hier jeweils im Original, in griechischer, lateinischer, italieni­
scher, französischer, englischer Sprache. Und auch die spanische
Literatur fehlt nicht. Schopenhauer war, das läßt sich an seiner Bib­
liothek ablesen, ein sehr umsichtiger Buchkäufer. D ie Auswahl, die
er getroffen hat, kann sich durchaus sehen lassen: Juan Manuels
Conde Lucanor
und der
Lazarillo de Tomies,
Cervantes, Quevedo,
Lope de Vega, Gracián, Calderón, Moratfn, alle jeweils im spanischen
Original.4 D ie Präsenz der spanischen Geisteswelt in dieser Breite ist
für einen deutschen Philosophen zweifellos ein einzigartiges Phä­
nomen. Sie weist Schopenhauer nicht nur als einen Denker aus, dem
die Nationalkulturen Europas wie selbstverständlich zur Verfügung
stehen, sondern auch als einen Vertreter seines Faches, dem die
Literatur ebenso wichtig ist wie die Philosophie - ein Phänomen
übrigens, das die letztere nachhaltig geprägt hat. In seiner U ni­
versalität ist Schopenhauer ganz und durchaus ein Zeitgenosse und
Erbe der deutschen Romantik. Denn seit Friedrich und August W il­
helm Schlegel, seit Goethe, Gries, Tieck und Eichendorff gehört es
zum guten Ton in Deutschland, nicht nur über die Französische und
italienische Literatur des Mittelalters und der Renaissance, sondern
auch über die spanische Literatur, insbesondere die des Goldenen
Zeitalters, orientiert zu sein, ja sie, wenn möglich, auch selbst im
Original gelesen zu haben.
Was Schopenhauer betrifft, so hatte er 1825, also erst im Alter von 37
Jahren, damit begonnen, Spanisch zu lernen. Er wohnte zu dieser Zeit
in der Berliner Behrensstraße, einer Parallelstraße von Unter den
Linden, und unternahm gerade einen zweiten, eher halbherzigen
Versuch, sich einen Platz an der noch jungen, 1810 gegründeten
Friedrich-Wilhelms-Universität zu schaffen, gegen die Übermacht
seines Antipoden Hegel, dieses "Kopfverderbers und Unsinnschmie­
rers", wie er ihn später nannte. Daraus wurde, obwohl Schopenhauers
3
4
Cf. Schopenhauer,
Der handschriftliche N achlaß,
ed. A. H übscher, vol. V,
Frankfurt am Main 1968.
Ib., pp. 489498.
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Hauptwerk
Die Welt als Wille und Vorstellung
schon 1818 erschienen
war, bekanntlich auch diesmal nichts. Schopenhauer zieht sich resig­
niert nach Frankfurt am Main zurück, getröstet höchstens - doch sei
ihm dies nicht unterstellt - dadurch, daß Hegel im November 1831
eben der Cholera-Epidemie zum Opfer fällt, der sich Schopenhauer
durch seine Flucht im August desselben Jahres entzogen hatte.
D och lassen wir diese
querelles universitaires!
Seine Liebe zum Spani­
schen nimmt Schopenhauer jedenfalls nach Frankfurt mit. Das läßt
sich an der stetig wachsenden spanischen Abteilung seiner Bibliothek
zeigen. D er Autor, der darin mit Abstand am besten vertreten ist, war,
das dürfte allerdings dem französischen Philosophiedozenten Morin
kaum aufgefallen sein, kein anderer als Baltasar Gracián. Schopen­
hauer besaß nicht nur eine zweibändige Gesamtausgabe der Werke
Graciáns von 1702, sondern auch Einzelausgaben des
Oráculo
manual,
des
Político
und des
Héroe
von 1659 und des
Discreto
von
1665, alle gedruckt in den Niederlanden - ein höchst eindrucksvolles
Zeugnis für die erfolgreiche Vermittlerrolle dieser ehemals spani­
schen Provinz Nordwesteuropas.5 Außerdem besaß Schopenhauer
mehrere Übersetzungen, zwei deutsche des
Handorakels,
die weit
verbreitete französische von Amélot de la Houssaie und eine fran­
zösische Übersetzung des
Criticón
von 1696.6
Schopenhauer ist ein äußerst kritischer Leser, was diese Übersetzun­
gen betrifft. Das zeigen die zahlreichen Anstreichungen und Varian­
ten und insbesondere die sogenannte "Litterarischê Notiz", die er den
eigenen Übersetzungen des
Oráculo manual
von 1829 und 1832 vor­
anstellte.7 Hier geht er mit Amélot de la Houssaie, mit einer lateini­
schen Übersetzung, die 1750 in Wien erschienen war, und vor allem
mit den ihm vorliegenden deutschen Übersetzungen des
Oráculo
manual
scharf ins Gericht. Das Fazit, das Schopenhauer 1832 im Blick
auf die eigene Übersetzung zieht, ist vernichtend:
Aus dem Gesagten geht hervor, daß von Graciáns noch immer so allgemein
bekanntem Werk, durchaus keine lesbare Deutsche Uebersetzung vorhanden ist,
eine richtige und genaue aber in gar keiner Sprache, weshalb die Liebhaber sich
5 Cf. ib., pp. 492M94.
6
L ’ om m e d¿trompé,
Paris 1696 bzw.
L ’ om m e de Cour,
Rotterdam 1728 (cf. ib.,
H
H
p. 495).
7
Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß,
ed. cit., Frankfurt am Main 1975, vol.
IV, 2, pp. XIV-XVII.
8 Ib., p. XV.
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Sebastian Neumeister
mit der veralteten und unvollkommnen Französischen begnügen müssen. D aher
nun tritt, in gegenwärtiger U ebersetzung, dieses Buch mit einem alten Ruhm und
zugleich doch so gut als völlig neu auf.
Schopenhauers Übersetzung des
Handorakels
ist bekanntlich erst
zwei Jahre nach seinem Tode im Druck erschienen.9 D ie Probe­
übersetzung der ersten fünfzig Regeln des Buches, die Schopenhauer
1829 dem Verleger Friedrich A. Brockhaus anbot, weckte bei diesem
kein Interesse. Auch die vollständige Übertragung aller 300 Regeln,
die Schopenhauer 1832 Johann Georg Keil nach Leipzig schickte,
fand zunächst keinen Verleger. Schopenhauer hatte die Bekannt­
schaft Keils während seiner Jahre in Weimar gemacht, als er bei der
Mutter wohnte und Keil an der Herzoglichen Bibliothek tätig war.
Keil war der wohl bekannteste Hispanist seiner Zeit. Als Juan Jorge
Keil hatte er unter anderem zwischen 1820 und 1830 zwei Calderón-
Ausgaben in spanischer Sprache veranstaltet, darunter die erste m o­
derne Gesamtausgabe der Dramen Calderons überhaupt. Auch sie
findet sich selbstverständlich in Schopenhauers spanischer Biblio­
thek, und Schopenhauer macht Keil brieflich auf Druckfehler auf­
merksam.10 Keil nun vermittelt Schopenhauer an den Verleger seiner
eigenen Calderón-Ausgaben, Ernst Fleischer in Leipzig. Dieser zeigt
sich interessiert. Diesmal ist es jedoch Schopenhauer, der ablehnt,
unter anderem, weil ihm Fleischer nicht die Auszahlung des Honorars
bei Ablieferung des fertigen Manuskriptes zugestehen w ill."[...] was
jeder Handwerker fordern darf', so beklagt sich Schopenhauer bei
Keil über die Verleger im allgemeinen und Fleischer im besonderen,
"soll der Schriftsteller nicht dürfen; soll ihnen ferner seine Arbeit halb
umsonst geben und ihnen dann noch die Hand küssen."11 Ein zweites,
noch größeres Graciän-Projekt Schopenhauers, die Übersetzung des
Criticón,
bleibt bis auf eine längere Passage ohnehin ganz unaus­
geführt. Schopenhauer schätzt, wie er ebenfalls Keil anvertraut, die
Chance, dafür einen Verleger zu finden, als zu gering ein. W ie wir
9
Z u r Druckgeschichte cf. ib., pp. X-XIX, und Schopenhauer,
Gesammelte Briefe,
ed.
A . Hübscher, Bonn 1978, Briefe nos. 109,127,130,131,168.
10 Ib., Brief no. 127, Postscriptum (p. 132). Zu Keil und Calderón vgl. H. Wentzlaff-
Eggebert, "Johann G eorg Keil und die deutsche Calderón-Philologie im ersten
D rittel des 19. Jahrhunderts", in: M anfred Tietz (Hg.),
Das Spanieninteresse im
deutschen Sprachraum,
Frankfurt am Main 1989, pp. 118-130.
11 Ib., Brief no. 131 (p. 136).
Schopenhauer als Leser Graciáns
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wissen, zu Recht: bis heute gibt es keine vollständige Übertragung des
Criticón
aus dem Spanischen ins Deutsche.
Was nun bewegt Schopenhauer, den Philosophen der Verneinung des
Willens zum Leben, sich so intensiv gerade mit dem Jesuitenpater
Gracián zu befassen, diesem späten und, wie es scheint, erzkonser­
vativen Vertreter der spanischen Gegenreformation? Schopenhauer
kennt nach eigenem Bekunden den ganzen Gracián. D as dürfte nicht
ganz stimmen, etwa hinsichtlich des
Comulgatorio.
Dennoch sind die
Anstreichungen in den Handexemplaren seiner Bibliothek, aber auch
die Zitate im eigenen philosophischen Werk ausgesprochen zahl­
reich. Mehrfach spricht Schopenhauer fast zärtlich von Gracián als
"mein trefflicher Balthasar Gracián" und "mein Lieblingsschriftstel-
1
?
ler", dessen
Criticón
"unvergleichlich" sei, "die größte und schönste
Allegorie, die je geschrieben worden" und ihm "eines der liebsten
Bücher auf der Welt"13 - eine Bewertung, die sich einige Jahre später
auch in der Vorrede zur ersten Auflage der Ausgabe der beiden
Preisschriften zur Ethik
wiederfindet.14
Nicht zum wenigsten dürfte die Begeisterung Schopenhauers für
Gracián auf das hochempfindliche Sprachbewußtsein des spanischen
Autors, aber auch seines prominenten Lesers zurückzuführen sein.
Schopenhauer hat sich bekanntlich in den
Paralipomena
ausführlich
über Schriftstellerei und Stil, über Sprache und Worte geäußert.15 Er
hat es dabei nicht an Schärfe bei der Verurteilung der sogenannten
Sprachverhunzung fehlen lassen, wie sie ihm zufolge besonders die
Journalisten und die Gelehrten aus Mangel an eigener Substanz zu
verantworten haben. Schopenhauer sieht in diesem Defizit die U r­
sache
des geschrobenen, vagen, zweideutigen, ja vieldeutigen Stils, imgleichen des weit-
läuftigen und schwerfälligen, des style empesé, nicht weniger des unnützen W o rt­
2
12 Schopenhauer,
Sämtliche Werke,
ed. W. Freiherr von Löhneysen, D arm stadt “1968,
vol. V, p. 544 bzw.
Gesammelte Briefe,
ed. cit., Brief no. 127 (p. 131).
13
Sämtliche Werke,
ed. cit., vol. I, p. 338; ib., III, p. 353;
Gesammelte Briefe,
ed. cit.,
B rief no. 127 (p. 131).
14
Sämtliche Werke,
ed. cit., vol. III, p. 505. Zu einzelnen Aspekten von Schopenhauers
Gracián-Lektüre haben sich zwischen 1910 und 1958 A. M orel-Fatio, G. Marone,
A. Ham ei und K. H eger geäußert (cf. E. Correa Calderón,
Baltasar Gracián,
M adrid 21970, pp. 366, 371, 373, 401). Cf. auch E. Hidalgo-Sema,
Das ingeniöse
Denken bei Baltasar Gracián,
M ünchen 1985, pp. 35-38. Die Schopenhauer-
L iteratur geht auf Gracián nur am Rande ein.
15
Paralipomena,
cap. 23 und 25 (ib., V, pp. 589 ss.).
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